Gespräch mit einem Psychiater

 

Ich habe einige Jahre als Neuropsychologin in verschiedenen Berliner Kliniken und Krankenhäusern gearbeitet. Als ich meine Tätigkeit begann hatte ich, geprägt von einem neurobiologisch orientierten Psychologiestudium, eine bestimmte Vorstellung von psychischen und kognitiven Störungen, deren Genese und der Art und Weise, wie man sie behandeln sollte.

 

 

 

Nach und nach brachte der Kontakt mit realen Patienten einige meiner Überzeugungen ins Wanken.

 

 

 

Da begegnete mir Stefan Weinmanns Buch "Erfolgsmythos Psychopharmaka". Ich las es gierig und spürte einen Quantensprung in meinem Denken. Die Lektüre des Buches war eine von vielen Erfahrungen, die meine Sicht auf psychische und kognitive Störungen radikal veränderten. Irgendwann entschied ich mich, die Arbeit in der Klinik aufzugeben um mehr im Einklang mit meinen Überzeugungen arbeiten zu können.

 

 

 

Zusammen mit meinem Freund Roberto Calvo (Maler) habe ich einen Sachcomic geschrieben und gestaltet "Psychopathologie im Kindesalter/Die Träumer" um meine Erfahrungen zu verarbeiten.

 

 

 

Vor kurzem lass ich das letzte Buch von Stefan Weinmann, "Die Vermessung der Psychiatrie". Ich fand es derart spannend und bereichernd, dass ich Kontakt zu ihm aufnahm und fragte, ob er sich mit mir treffen würde. Er sagte zu. Wir trafen uns auf ein Bier in Berlin-Neukoelln und ich konnte nachfolgendes Gespräch mit ihm führen.

 

 

 

 

 

Stefan Weinmann (14.06.1971, Schweinfurt/Bayern) ist Psychiater und Psychotherapeut mit Abschlüssen in den Gesundheits- und Wirtschaftswissenschaften. Er hat zur psychiatrischen Versorgung geforscht und mehrjährig Erfahrungen in den Gesundheitssystemen anderer Länder sammel können. Derzeit arbeitet er als Psychiater in Berlin. Er hat mehrere Bücher publiziert. Das letzte,"Die Vermessung der Psychiatrie", ist 2019 im Psychiatrie Verlag erschienen. Das Buch ist eine Auseinandersetzung mit dem, was Stefan Weinmann "Täuschungen und Selbsttäuschungen" eines Fachgebiets nennt.

 

 

 

Warum sind Sie Psychiater geworden?

 

 

 

Ich habe mich immer für mehr als den menschlichen Körper interessiert. Der Mensch als Teil der Gesellschaft, als soziales Wesen, das auch straucheln und traumatisiert werden kann. Das ist es, was die Psychiatrie ausmacht, die sich im Spannungsfeld zwischen Natur- und Sozialwissenschaften befindet. Psychiatrie ist ein faszinierendes Fachgebiet, das vielfältige gesellschaftliche Bezüge hat.

 

 

 

 

 

 

 

Gibt es sowas wie psychische Gesundheit?

 



 

Psychische Gesundheit ist die innere Widerstandsfähigkeit einer Person gegenüber kritischen Lebenserfahrungen und Risikofaktoren. Psychisch gesund ist, wer Krisen gut bewältigt, mit Stress umgehen kann und eine vergleichsweise positive Wahrnehmung von sich hat.

 

 

 

Viele Menschen denken, dass es einen qualitativen Unterschied gibt zwischen (psychischer) Gesundheit und Krankheit. Wie sehen Sie das?

 

Menschen können das Gefühl haben psychisch nicht gesund zu sein ohne dass das bedeuten muss, dass sie psychisch krank sind. Das ist es ja: psychische Krankheiten sind, sofern sie nicht eindeutig körperlich begründet sind, immer Konstruktionen. Was in der einen Kultur als krank angesehen wird, ist in einer anderen akzeptiert. Psychische „Krankheit“ existiert immer in einem Kontext. Wir gehen davon aus, dass nur derjenige psychisch „krank“ genannt werden sollte, der eine wesentliche Beeinträchtigung psychischer Funktionen hat, schwere Denkstörungen etwa oder Depressivität. Dass es nur jemanden betrifft, der in seinem psychosozialen Alltag schwer beeinträchtigt ist, nicht mehr arbeiten kann, nicht mehr aufsteht, signifikanten Leidensdruck erlebt.

 



 

Der Psychiater Allan Frances, welcher selbst zu dieser Entwicklung beigetrug, hat in seinen Buch "Normal" die Vermehrung der Diagnosen heftig kritisiert. Und Martin Buber sagte einmal, dass wenn der Mensch vor der Aufgabe stände, sich selbst zu verstehen, er entweder sofort kapitulieren oder einen Menschen in Teile zerlegen würde, um intensiv an ihnen zu forschen. Ist es das, was gerade in der Psychiatrie passiert?

 

Richtig. Der moderne wissenschaftlich und „fortschrittlich“ denkende und handelnde Mensch zerstört nicht selten das Objekt seines Wissensdrangs durch Zerkleinerung, Zerschneidung und Aufteilung. Aber der Mensch ist nicht die Summe der Einzelteile. Durch Isolierung kann ich vielleicht einen Teil der Arbeit des Gehirns besser erklären aber ich verliere den Menschen aus dem Blick. Genau das ist in den letzten 20-30 Jahren in der Psychiatrie passiert.

 



 

Was steckt hinter unserem Bedürfnis alles messen zu wollen?

 

Dahinter steckt der Wunsch, mit Unsicherheiten umgehen und sie am besten beseitigen zu können. Dahinter steckt auch der Wunsch, nicht so sehr durch Verstörendes, wenig Verstehbares emotional belastet zu werden. Der Wunsch, das Geheimnis sozial schwieriger Interaktion zu rationalisieren und an ein Fachgebiet zu delegieren. Wenn wir etwas vermessen, haben wir den Eindruck, es kontrollieren zu können.

 



 

In ihren letzten Buch "Die Vermessung der Psychiatrie" setzen sie sich mit dem neurobiologischen Paradigma auseinander. Ihre Kritik betrifft den Umgang mit den Diagnosen, die als ontologische Kategorien angesehen werden, und die Tendenz, die Ursachen für die postulierten psychischen Störungen im Gehirn bzw. in den Genen zu verorten. Sie beschreiben die Mechanismen, die uns zu diesen Denken geführt haben und geben eine plausible Antwort auf die Frage, warum sich diese Sicht sich trotz entäuschender Ergebnisse weiterhin hält. Sie hinterfragen den allgemeinen Konsens. Mich würde interessieren, was, welche Erfahrungen, vielleicht auch welche Lektüren Sie dazu gebracht haben, das biomedizinische Paradigma abzulehnen?

 

Sowas wie eine Bekehrung gab es bei mir nicht. Ich habe mich schon immer für gesellschaftliche Themen und deren Zusammenhang mit Fragen der psychischen Gesundheit interessiert. Insbesondere haben mich die Versorgungssysteme anderer Länder interessiert. Ich bin viel durch die Welt gereist.

 

Ich habe eine Doktorarbeit zur Zellbiologie in der Kinderheilkunde abgeschlossen. Als Psychiater habe ich im "Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI)" in Mannheim angefangen. Dessen Gründungsdirektor war Sozialpsychiater und mein Ziel war es, psychische Gesundheit unter Berücksichtigung sozialer Fragen und neurobiologischer Erkenntnisse zu erforschen. Ende der 90er Jahre unter der neuen Leitung des Hauses war schnell klar, in welche Richtung sich das Institut und die Psychiatrie insgesamt entwickelte. Die 90er wurden ja als Dekade des Gehirns bezeichnet. Entsprechend wurde mehr und mehr in moderne Technologie investiert und die sozialen Fragen gerieten immer mehr in den Hintergrund. Ich bin weiterhin sehr an Neurobiologie interessiert aber mich beunruhigte schon immer die Dominanz, mit der Neurobiologen den Diskurs zu psychischen Erkrankungen bestimmten.

 

 

Nun herrscht nach wie vor das biomedizinische Paradigma in der Psychiatrie. Nur einzelne Stimmen stellen es in Frage. Selbst das Bio-Psycho-Soziale-Modell dient letzten Endes der Biologisierung, da man am Ende bei der genetischen Vulnerabilität landet. Das haben Sie sehr klar in ihrem Buch erklärt. Was genau ist genetische Vulnerabilität und welche Belege gibt es für ihre Existenz?

 

 

Es gibt den Nachweis, dass sich beispielsweise Psychosen in Familien häufen. Je näher der Verwandtschaftsgrad, desto höher das Risiko, dass ein Verwandter ebenfalls eine Psychose hat. Aber niemand hat bisher Risiko-Gene entdeckt. Wir wissen nicht, ob ein gewisses Risiko für psychotisches Erleben über die Gene oder über das Aufwachsen in Familien mit einem Betroffenen vermittelt wird.

 



 

Wir scheinen solche Annahmen zu brauchen. Warum fällt es uns so schwer zu akzeptieren, dass es unsere Erfahrungen, unsere Lebensumstände sein könnten, die uns krank machen?

 

 

Es gibt immer mehr Befunde für psychosoziale Risikofaktoren für Psychosen – Stress, Traumata, Stigmatisierung, Migration und andere schwer erschütternde Erlebnisse können krank machen. Dies zu akzeptieren führt häufig zur Schuldfrage: Wer ist schuld? Hätte man es verhindern können? Wenn wir von biologischer Erkrankung sprechen, ist anscheinend niemand schuld. Aber weder die Erkrankten noch die Angehörigen glauben diese biologischen Krankheitsmodelle.

 



 

Was haben Sie gegen Psychopharmaka?

 

Sie können hilfreich sein, werden aber zu häufig, zu lange und zu hochdosiert eingesetzt

 

 

 

Die Befunde die uns die Neurowissenschaften liefern sind unübersichtlich und spektakulär. Es ist leicht, Menschen damit zu blenden und ihnen Hoffnungen zu machen z.B. darauf, dass ihre Erkrankung einfach durch Medikamente zu behandeln ist. Mittels Psychoedukation lehrt man den Patienten, dass ihre Neurotransmittersysteme im Ungleichgewicht gekommen sind und dass sie deswegen auf Medikation angewiesen sind. Betroffene sollen an diese Erklärungen glauben und den Empfehlungen folgen, obwohl kein biologischer Test gemacht wird um die Dysregulation, fehlendes Dopamin bzw. Serotonin, festzustellen, auch, weil wir keine Normwerte dafür haben. Die Patienten müssen daran glauben.

 

Zweifeln die Betroffenen?

 

 

Ja, denn sie spüren, dass wir es uns zu einfach machen. Wenige Menschen sagen von sich, dass sie einfach eine psychische Erkrankung haben, die langfristig mit Medikamenten behandelt werden muss.

 



 

Und die Psychiater selbst? Glauben sie wirklich daran oder fehlen ihnen einfach bessere Methoden?

 

 

Ich denke viele machen sich etwas vor. Sie begreifen das Erleben und das Verhalten der Betroffenen nicht also versuchen sie daran zu glauben, dass es sich um eine Gehirnerkrankung handelt. Aber auch Psychiater wissen, dass es nicht so einfach ist. Unsere Medikamente helfen nicht ursächlich, werden immer wieder abgesetzt. Das irritiert.

 



 

Mich würde interessieren ob Sie es tatsächlich schaffen in ihrem Alltag so zu arbeiten wie Sie es gerne täten und wie Sie es in ihrem Buch beschreiben?

 

Nein. Zurzeit arbeite ich mit Patienten mit akuten Psychosen in der geschlossenen Psychiatrie. Dort sind wir nach wie vor auf Medikamente angewiesen. Die Rahmenbedingungen die erforderlich wären, sind nicht gegeben. In der akuten Phase ist dennoch die Haltung, die man gegenüber den Patienten einnimmt, enorm wichtig. Wie alle Menschen wollen die Betroffenen akzeptiert und ernstgenommen werden. Manche von ihnen haben schlechte Erfahrungen gesammelt.

 

Wir machen auch "aufsuchende Behandlung". Wir begleiten die Patienten jeden Tag für zwei bis drei Wochen. Dort versuche ich nicht, psychoedukativ zu arbeiten sondern die Dynamiken mit den weiteren Familienmitgliedern zu reflektieren, nicht nur patientenorientiert zu arbeiten.

 



 

Das klingt sehr nach systemischer Arbeit, was Sie auch in ihren Buch betont haben. Sie sprechen davon, nicht nur "patientenorientiert" zu arbeiten. An diesem Punkt würde mich interessieren, welche Modelle von Krankheit, in diesem Fall Schizophrenie, Sie vertreten?

 

 

Ich spreche lieber über Menschen mit Psychose-Erfahrung. Es ist weniger stigmatisierend und darüber hiaus vermeidet man eine vorschnelle Chronifizierung der Störung. Es gibt ja Menschen die nur eine Krise im Leben haben. Es gibt Länder wie Japan die grundsätzlich den Begriff ablehnen aufgrund der etymologische Bedeutung: zerbrochenes Gehirn. Man spricht stattdessen von Integrationsstörung.

 



 

Und denken Sie, dass Störungen einen Sinn haben? Symptome eine symbolische Bedeutung? Karl Jaspers traf eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen verstehbaren (Neurosen) und nicht verstehbaren (Psychosen) Störungen. Seinem Verständnis nach waren die Psychosen organische Störungen, die man nicht verstehen konnte. Später wurde dieses Dogma u.a. von Freud in Frage gestellt. Dennoch hält es sich nach wie vor.

 

Kann man Psychosen verstehen? Was ist aktuell die dominante Meinung und was denken Sie persönlich?

 

 

Man wird Psychosen nicht hundertprozentig verstehen können. Aber es ist eine menschliche Ausdrucksform, eine Art der Verarbeitung von Erlebnissen die wir nicht immer gleich pathologisieren müssen. Die dominante Meinung ist: psychotisch = krank. Das ist zu vereinfacht.

 

 

 

In den 60 Jahren wurde die von einer Gruppe um den Anthropologen und Kommunikationsforscher Gregory Bateson entwickelte Double-Bind Hypothese vertreten. Sie besagt, dass (einige) Psychosen die "Lösung" einer logischen/emotionalen Sackgasse sind. Die Betroffenen seien in der familiären Kommunikation zwischen zwei wiedersprüchlichen Botschaften gefangen, etwa einer sprachlich und einer anders, z.B. durch Verhalten oder Mimik vermittelten. Diese Sackgasse führe letzendlich dazu, dass Betroffene ein Wahngebäude produzieren ssen um aus dem Wiederspruch herauszukommen ohne sich dem Konflikt zu stellen.

 

Was halten Sie heute von solchen Hypothesen?

 

 

Jede einfache Erklärung ist falsch. Psychotisches Erleben kann durchaus eine Art und Weise sein, Widersprüche nicht aushalten zu müssen. Aber es kann auch Ausdruck anderer Probleme sein. Wir kennen drogeninduzierte Psychosen und solche, die Wunschträumen oder tief liegenden Ängsten entsprechen. Was mich stört ist die Vereinnahmung der Psychosen durch die Psychiatrie.

 



 

Sie sprechen davon, dass man aus guten Romanen mehr über die Psyche lernen kann als durch Fachliteratur. Die wichtigste Bücher der Psychiatrie, ICD und DSM, ähneln eher Gebrauchsanleitungen. Daraus lernt man, die gängige Störungen zu diagnostizieren aber nicht zu verstehen. Nutzen Psychiater Ihrer Meinung nach zu wenig andere Mittel?

 

 

Ja. Psychiater sollten umfassend ausgebildet und Experten in zwischenmenschlicher Kommunikation sein. Unsere Ausbildung sollte sich verändern. Lesen von Weltliteratur sensibilisiert für menschliche Tragödien und Widersprüche, aber auch für Resilienz. Der Vorteil der Diagnosesysteme war, dass sie keine Hypothesen zu den Ursachen psychischer Auffälligkeiten mit sich bringen und dass Ärzte miteinander über Patienten kommunizieren können. Sie sind die Basis für die Therapie. Aber sie transportieren eben doch Vorurteile über Menschen, sie schränken unser Sehen ein.

 



 

Es gibt einen interessanten Dokumentarfilm der sich kritisch mit der Biologisierung der Psychiatrie auseinandersetzt (https://www.youtube.com/watch?v=VytXQ98wFBk). Darin erzählt eine Betroffene über ihren Heilungsprozess. Die wichtigsten Faktoren, die ihrer Meinung nach zu ihrer Heilung beigetragen haben, waren das langsame Wiedererlangen von Vertrauen in einen Menschen, der Therapeut*in, und die Zeit. Heute möchte man schnell behandeln, Kurzzeittherapien sind angesagt. Wie sehen Sie das: ist Zeitmangel ein Hindernis in der aktuellen Behandlung psychischer Störungen?

 

 

Ja, Zeitmangel ist ein großes Problem heutzutage. Er führt zu Hochdosistherapien mit Medikamenten und zur Standardisierung. Er verhindert den Aufbau von Vertrauen. Wir setzen uns unter Druck als Therapeuten. Das Paradoxe ist, dass Zeitmangel am Anfang der Therapie möglicherweise zu rascherer Verringerung der Symptome führt aber im Verlauf zur Chronifizierung. Psychosen brauchen Zeit. Menschen müssen wieder Vertrauen in andere aufbauen. Der Austausch über das, was sie erleben, benötigt Zeit bis sie bereit sind, darüber zu sprechen. Da-Sein ist wichtig, ohne den Druck, „therapieren“ zu müssen, es sei denn es besteht akute Eigen- oder Fremdgefährdung. Wir sollten daher eher von begleiten sprechen als von therapieren. Der Mensch selbst muss seine Psychose durchleben, nicht wir Therapeuten.

 



 

Man sagt, dass Menschen für´s Überleben und nicht für die Wahrheit geschaffen sind. Es scheint als ertrügen wir die Wahrheit nicht. Religion ebenso wie (Neuro)wissenschaft kann man auch als Beruhigungsmittel verstehen - beide apellieren an eine nahe oder ferne Zukunft in der unsere Probleme gelöst werden und lassen uns hoffen. Diese Delegation der Probleme in die Zukunft befreit uns darüber hinaus von unangenehmer Selbsterkenntnis und auch von dem vermeintlichen Druck, neue Erfahrungen machen zu müssen. Wir können hoffen, warten, brauchen nichts verändern. Allerdings kann dieser Weg nicht ohne Opfern gegangen werden. Opfer sind Betroffene, die zu chronisch Kranken gemacht, deren Lebenslagen medikalisiert werden.

 

Wird es jemals eine Zeit geben, in der wir uns nicht mehr derart selbst zu täuschen brauchen?

 

 

Selbsttäuschung gehört zum Leben dazu. Wir können uns bemühen, uns unserer Selbsttäuschungen besser bewusst zu werden.

 



 

Interessant finde ich auch die Studien die Sie aufführen um aufzuzeigen, dass Schizophrenien in in einigen Ländern außerhalb der westlichen Welt eine bessere Prognose haben als in unseren stark medikalisierten Systemen. Warum ist das so?

 

 

Ja, teilweise scheint die Prognose von Psychosen in Ländern mit weniger elaborierten psychiatrischen Versorgungssystemen besser zu sein. Diese Befunde waren für die Fachleute derart verstörend, dass sie zunächst verschiedene Erklärungen suchten – etwa die, dass Schizophrenien in Indien und Nigeria gar keine echten Schizophrenien seien, das Leben in diesen Gesellschaften insgesamt weniger »stressig« verliefe und die Familien und Gemeinschaften »inklusiver« lebten. Eine einfache Erklärungsmöglichkeit aber sie vergisst eines: dass dort weniger Medikamente gegeben werden und Menschen weniger oft in psychiatrische Kliniken gesteckt werden. Auch in sogenannten Entwicklungsländern gibt es schwere Fälle von Psychosen, manche Menschen starben daran, und manchmal werden sie auch stark ausgegrenzt oder versteckt. Aber vielleicht neigen diese Länder weniger zu Chronifizierung solcher Störungen.

 



 

Solche Erkenntnise sollten eigentlich zu einem Umdenken führen. Warum sind sie so wenig bekannt?

 

 

Sie werden aus dem kollektiven Gedächtnis der Psychiater verbannt, weil sie nicht ins Weltbild passen: Mehr Psychiatrie ist nicht immer besser…..

 



 

Ich frage mich, inwiefern die Selbsttäuschung, über die Sie sprechen, nur die Psychiatrie betrifft. Ich habe jahrelang mit Epilepsie-Patienten, insbesondere mit Kindern gearbeitet.

 

Epilepsie ist eine besonders interessante Störung. Lange Zeit war es unklar ob sie als psychiatrisch oder als neurologisch erfasst werden sollte. Die Erfindung des EEGs in den 30er Jahren durch Hans Berger hat uns einen Biomarker geliefert, die typisch veränderte Hirnkurve. Seit dem ist Epilepsie per Definition eine neurologische Störung geworden. Sie hat bekommen was die Biomedizin alle psychischen Störungen verpasst: den Stempel einer somatischen Störung. Davon erhoffen wir uns gezielte und effiziente Therapien. Auch hier hat sich diese Hoffnung nicht bestätigt. Trotz zahlreicher Antikonvulsiva ist die Zahl der anfallsfreien Patienten unverändert.

 

Ein weiteres Problem ist, dass Epilepsie häufig von psychichen Störungen begleitet wird. Die nennen wir "Komorbiditäten" um nicht weiter über Zusammenhänge nachdenken zu müssen. Aber genau wie es bei anderen Störungen der Fall ist könnte Epilepsie auch eine doppelte Genese haben und sowohl somatisch durch v.a. durch Hirnläsionen als auch psychich etwa von Ängsten oder Traumata ausgelöst werden.

 

Könnte es sein, dass nicht nur psychiatrische sondern auch andere Störungen, neurologische bzw. autoimmune, zu stark biologisiert sind?

 

Denken Sie, dass ihre Ansichten (Anmerkung: Täuschung, Selbsttäuschung ...) auch auf somatische Störungen zutreffen könnten? Wenn nicht, wo sehen Sie die Grenze?

 

Kann ich nicht gut beantworten.

 



 

Könnte es sein, dass die Psychiatrie eigentlich nicht das primäre Ziel hat, Menschen zu helfen sondern sich selbst zu erhalten?

 

 

Natürlich neigt jede Institution dazu, sich selbst zu erhalten. Ich würde der Psychiatrie nicht unterstellen, dass sie nur dieses Ziel hat. Der Bedarf an Unterstützung für Menschen mit psychischen Krisen ist ja groß und wächst. Aber der Selbsterhaltungsdrang der Psychiatrie verhindert Veränderungen und Weiterentwicklung. Bestehende Systeme mit ihren finanziellen und anderen Anreizen sind besonders in unserem Sozialversicherungssystem schwer zu reformieren.

 

 

Wagen sie eine Prognose für Ihr Fach? Wie denken Sie wird sich die Psychiatrie entwickeln, in 50 Jahre z.B.?

 

Ich habe keine wirklich gute Idee. Ich denke und hoffe, dass die Betroffenenbewegung stärker wird, dass die Psychiatrie weniger attraktiv wird für junge Ärzte, dass wir gezwungen sind, andere Möglichkeiten des Umgangs mit Menschen in psychischen Krisen zu finden weil Personal fehlt. Ich hoffe, dass die Psychiatrie immer weniger institutionalisiert und mehr in die Gesellschaft geht, dass die Grenzen zwischen den psychiatrisch tätigen Berufsgruppen stärker verwischen und dass die Gesellschaft mehr Verantwortung übernimmt für Menschen in psychischen Krisen. Aber auch die pessimistische Variante ist denkbar: Dass wir immer mehr psychische Probleme an die Psychiatrie delegieren und damit die Gesellschaft immer inhumaner wird. Insgesamt glaube ich, dass wir von Entwicklungen außerhalb der Psychiatrie eingeholt werden – die Psychiatrie hat sich meist durch Eingriffe von außen und nicht von innen verändert.

 


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