Ich habe einige Jahre als Neuropsychologin in verschiedenen Berliner Kliniken und Krankenhäusern gearbeitet. Als ich meine Tätigkeit begann hatte ich, geprägt von einem neurobiologisch orientierten Psychologiestudium, eine bestimmte Vorstellung von psychischen und kognitiven Störungen, deren Genese und der Art und Weise, wie man sie behandeln sollte.
Nach und nach brachte der Kontakt mit realen Patienten einige meiner Überzeugungen ins Wanken.
Da begegnete mir Stefan Weinmanns Buch "Erfolgsmythos Psychopharmaka". Ich las es gierig und spürte einen Quantensprung in meinem Denken. Die Lektüre des Buches war eine von vielen Erfahrungen, die meine Sicht auf psychische und kognitive Störungen radikal veränderten. Irgendwann entschied ich mich, die Arbeit in der Klinik aufzugeben um mehr im Einklang mit meinen Überzeugungen arbeiten zu können.
Zusammen mit meinem Freund Roberto Calvo (Maler) habe ich einen Sachcomic geschrieben und gestaltet "Psychopathologie im Kindesalter/Die Träumer" um meine Erfahrungen zu verarbeiten.
Vor kurzem lass ich das letzte Buch von Stefan Weinmann, "Die Vermessung der Psychiatrie". Ich fand es derart spannend und bereichernd, dass ich Kontakt zu ihm aufnahm und fragte, ob er sich mit mir treffen würde. Er sagte zu. Wir trafen uns auf ein Bier in Berlin-Neukoelln und ich konnte nachfolgendes Gespräch mit ihm führen.
Stefan Weinmann (14.06.1971, Schweinfurt/Bayern) ist Psychiater und Psychotherapeut mit Abschlüssen in den Gesundheits- und Wirtschaftswissenschaften. Er hat zur psychiatrischen Versorgung geforscht und mehrjährig Erfahrungen in den Gesundheitssystemen anderer Länder sammel können. Derzeit arbeitet er als Psychiater in Berlin. Er hat mehrere Bücher publiziert. Das letzte,"Die Vermessung der Psychiatrie", ist 2019 im Psychiatrie Verlag erschienen. Das Buch ist eine Auseinandersetzung mit dem, was Stefan Weinmann "Täuschungen und Selbsttäuschungen" eines Fachgebiets nennt.
Warum sind Sie Psychiater geworden?
Ich habe mich immer für mehr als den menschlichen Körper interessiert. Der Mensch als Teil der Gesellschaft, als soziales Wesen, das auch straucheln und traumatisiert werden kann. Das ist es, was die Psychiatrie ausmacht, die sich im Spannungsfeld zwischen Natur- und Sozialwissenschaften befindet. Psychiatrie ist ein faszinierendes Fachgebiet, das vielfältige gesellschaftliche Bezüge hat.
Gibt es sowas wie psychische Gesundheit?
Psychische Gesundheit ist die innere Widerstandsfähigkeit einer Person gegenüber kritischen Lebenserfahrungen und Risikofaktoren. Psychisch gesund ist, wer Krisen gut bewältigt, mit Stress umgehen kann und eine vergleichsweise positive Wahrnehmung von sich hat.
Viele Menschen denken, dass es einen qualitativen Unterschied gibt zwischen (psychischer) Gesundheit und Krankheit. Wie sehen Sie das?
Menschen können das Gefühl haben psychisch nicht gesund zu sein ohne dass das bedeuten muss, dass sie psychisch krank sind. Das ist es ja: psychische Krankheiten sind, sofern sie nicht eindeutig körperlich begründet sind, immer Konstruktionen. Was in der einen Kultur als krank angesehen wird, ist in einer anderen akzeptiert. Psychische „Krankheit“ existiert immer in einem Kontext. Wir gehen davon aus, dass nur derjenige psychisch „krank“ genannt werden sollte, der eine wesentliche Beeinträchtigung psychischer Funktionen hat, schwere Denkstörungen etwa oder Depressivität. Dass es nur jemanden betrifft, der in seinem psychosozialen Alltag schwer beeinträchtigt ist, nicht mehr arbeiten kann, nicht mehr aufsteht, signifikanten Leidensdruck erlebt.
Der Psychiater Allan Frances, welcher selbst zu dieser Entwicklung beigetrug, hat in seinen Buch "Normal" die Vermehrung der Diagnosen heftig kritisiert. Und Martin Buber sagte einmal, dass wenn der Mensch vor der Aufgabe stände, sich selbst zu verstehen, er entweder sofort kapitulieren oder einen Menschen in Teile zerlegen würde, um intensiv an ihnen zu forschen. Ist es das, was gerade in der Psychiatrie passiert?
Richtig. Der moderne wissenschaftlich und „fortschrittlich“ denkende und handelnde Mensch zerstört nicht selten das Objekt seines Wissensdrangs durch Zerkleinerung, Zerschneidung und Aufteilung. Aber der Mensch ist nicht die Summe der Einzelteile. Durch Isolierung kann ich vielleicht einen Teil der Arbeit des Gehirns besser erklären aber ich verliere den Menschen aus dem Blick. Genau das ist in den letzten 20-30 Jahren in der Psychiatrie passiert.
Was steckt hinter unserem Bedürfnis alles messen zu wollen?
Dahinter steckt der Wunsch, mit Unsicherheiten umgehen und sie am besten beseitigen zu können. Dahinter steckt auch der Wunsch, nicht so sehr durch Verstörendes, wenig Verstehbares emotional belastet zu werden. Der Wunsch, das Geheimnis sozial schwieriger Interaktion zu rationalisieren und an ein Fachgebiet zu delegieren. Wenn wir etwas vermessen, haben wir den Eindruck, es kontrollieren zu können.
In ihren letzten Buch "Die Vermessung der Psychiatrie" setzen sie sich mit dem neurobiologischen Paradigma auseinander. Ihre Kritik betrifft den Umgang mit den Diagnosen, die als ontologische Kategorien angesehen werden, und die Tendenz, die Ursachen für die postulierten psychischen Störungen im Gehirn bzw. in den Genen zu verorten. Sie beschreiben die Mechanismen, die uns zu diesen Denken geführt haben und geben eine plausible Antwort auf die Frage, warum sich diese Sicht sich trotz entäuschender Ergebnisse weiterhin hält. Sie hinterfragen den allgemeinen Konsens. Mich würde interessieren, was, welche Erfahrungen, vielleicht auch welche Lektüren Sie dazu gebracht haben, das biomedizinische Paradigma abzulehnen?
Sowas wie eine Bekehrung gab es bei mir nicht. Ich habe mich schon immer für gesellschaftliche Themen und deren Zusammenhang mit Fragen der psychischen Gesundheit interessiert. Insbesondere haben mich die Versorgungssysteme anderer Länder interessiert. Ich bin viel durch die Welt gereist.
Ich habe eine Doktorarbeit zur Zellbiologie in der Kinderheilkunde abgeschlossen. Als Psychiater habe ich im "Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI)" in Mannheim angefangen. Dessen Gründungsdirektor war Sozialpsychiater und mein Ziel war es, psychische Gesundheit unter Berücksichtigung sozialer Fragen und neurobiologischer Erkenntnisse zu erforschen. Ende der 90er Jahre unter der neuen Leitung des Hauses war schnell klar, in welche Richtung sich das Institut und die Psychiatrie insgesamt entwickelte. Die 90er wurden ja als Dekade des Gehirns bezeichnet. Entsprechend wurde mehr und mehr in moderne Technologie investiert und die sozialen Fragen gerieten immer mehr in den Hintergrund. Ich bin weiterhin sehr an Neurobiologie interessiert aber mich beunruhigte schon immer die Dominanz, mit der Neurobiologen den Diskurs zu psychischen Erkrankungen bestimmten.
Nun herrscht nach wie vor das biomedizinische Paradigma in der Psychiatrie. Nur einzelne Stimmen stellen es in Frage. Selbst das Bio-Psycho-Soziale-Modell dient letzten Endes der Biologisierung, da man am Ende bei der genetischen Vulnerabilität landet. Das haben Sie sehr klar in ihrem Buch erklärt. Was genau ist genetische Vulnerabilität und welche Belege gibt es für ihre Existenz?
Es gibt den Nachweis, dass sich beispielsweise Psychosen in Familien häufen. Je näher der Verwandtschaftsgrad, desto höher das Risiko, dass ein Verwandter ebenfalls eine Psychose hat. Aber niemand hat bisher Risiko-Gene entdeckt. Wir wissen nicht, ob ein gewisses Risiko für psychotisches Erleben über die Gene oder über das Aufwachsen in Familien mit einem Betroffenen vermittelt wird.
Wir scheinen solche Annahmen zu brauchen. Warum fällt es uns so schwer zu akzeptieren, dass es unsere Erfahrungen, unsere Lebensumstände sein könnten, die uns krank machen?
Es gibt immer mehr Befunde für psychosoziale Risikofaktoren für Psychosen – Stress, Traumata, Stigmatisierung, Migration und andere schwer erschütternde Erlebnisse können krank machen. Dies zu akzeptieren führt häufig zur Schuldfrage: Wer ist schuld? Hätte man es verhindern können? Wenn wir von biologischer Erkrankung sprechen, ist anscheinend niemand schuld. Aber weder die Erkrankten noch die Angehörigen glauben diese biologischen Krankheitsmodelle.
Was haben Sie gegen Psychopharmaka?
Sie können hilfreich sein, werden aber zu häufig, zu lange und zu hochdosiert eingesetzt
Die Befunde die uns die Neurowissenschaften liefern sind unübersichtlich und spektakulär. Es ist leicht, Menschen damit zu blenden und ihnen Hoffnungen zu machen z.B. darauf, dass ihre Erkrankung einfach durch Medikamente zu behandeln ist. Mittels Psychoedukation lehrt man den Patienten, dass ihre Neurotransmittersysteme im Ungleichgewicht gekommen sind und dass sie deswegen auf Medikation angewiesen sind. Betroffene sollen an diese Erklärungen glauben und den Empfehlungen folgen, obwohl kein biologischer Test gemacht wird um die Dysregulation, fehlendes Dopamin bzw. Serotonin, festzustellen, auch, weil wir keine Normwerte dafür haben. Die Patienten müssen daran glauben.
Zweifeln die Betroffenen?
Ja, denn sie spüren, dass wir es uns zu einfach machen. Wenige Menschen sagen von sich, dass sie einfach eine psychische Erkrankung haben, die langfristig mit Medikamenten behandelt werden muss.
Und die Psychiater selbst? Glauben sie wirklich daran oder fehlen ihnen einfach bessere Methoden?
Ich denke viele machen sich etwas vor. Sie begreifen das Erleben und das Verhalten der Betroffenen nicht also versuchen sie daran zu glauben, dass es sich um eine Gehirnerkrankung handelt. Aber auch Psychiater wissen, dass es nicht so einfach ist. Unsere Medikamente helfen nicht ursächlich, werden immer wieder abgesetzt. Das irritiert.
Mich würde interessieren ob Sie es tatsächlich schaffen in ihrem Alltag so zu arbeiten wie Sie es gerne täten und wie Sie es in ihrem Buch beschreiben?
Nein. Zurzeit arbeite ich mit Patienten mit akuten Psychosen in der geschlossenen Psychiatrie. Dort sind wir nach wie vor auf Medikamente angewiesen. Die Rahmenbedingungen die erforderlich wären, sind nicht gegeben. In der akuten Phase ist dennoch die Haltung, die man gegenüber den Patienten einnimmt, enorm wichtig. Wie alle Menschen wollen die Betroffenen akzeptiert und ernstgenommen werden. Manche von ihnen haben schlechte Erfahrungen gesammelt.
Wir machen auch "aufsuchende Behandlung". Wir begleiten die Patienten jeden Tag für zwei bis drei Wochen. Dort versuche ich nicht, psychoedukativ zu arbeiten sondern die Dynamiken mit den weiteren Familienmitgliedern zu reflektieren, nicht nur patientenorientiert zu arbeiten.
Das klingt sehr nach systemischer Arbeit, was Sie auch in ihren Buch betont haben. Sie sprechen davon, nicht nur "patientenorientiert" zu arbeiten. An diesem Punkt würde mich interessieren, welche Modelle von Krankheit, in diesem Fall Schizophrenie, Sie vertreten?
Ich spreche lieber über Menschen mit Psychose-Erfahrung. Es ist weniger stigmatisierend und darüber hiaus vermeidet man eine vorschnelle Chronifizierung der Störung. Es gibt ja Menschen die nur eine Krise im Leben haben. Es gibt Länder wie Japan die grundsätzlich den Begriff ablehnen aufgrund der etymologische Bedeutung: zerbrochenes Gehirn. Man spricht stattdessen von Integrationsstörung.
Und denken Sie, dass Störungen einen Sinn haben? Symptome eine symbolische Bedeutung? Karl Jaspers traf eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen verstehbaren (Neurosen) und nicht verstehbaren (Psychosen) Störungen. Seinem Verständnis nach waren die Psychosen organische Störungen, die man nicht verstehen konnte. Später wurde dieses Dogma u.a. von Freud in Frage gestellt. Dennoch hält es sich nach wie vor.
Kann man Psychosen verstehen? Was ist aktuell die dominante Meinung und was denken Sie persönlich?
Man wird Psychosen nicht hundertprozentig verstehen können. Aber es ist eine menschliche Ausdrucksform, eine Art der Verarbeitung von Erlebnissen die wir nicht immer gleich pathologisieren müssen. Die dominante Meinung ist: psychotisch = krank. Das ist zu vereinfacht.
In den 60 Jahren wurde die von einer Gruppe um den Anthropologen und Kommunikationsforscher Gregory Bateson entwickelte Double-Bind Hypothese vertreten. Sie besagt, dass (einige) Psychosen die "Lösung" einer logischen/emotionalen Sackgasse sind. Die Betroffenen seien in der familiären Kommunikation zwischen zwei wiedersprüchlichen Botschaften gefangen, etwa einer sprachlich und einer anders, z.B. durch Verhalten oder Mimik vermittelten. Diese Sackgasse führe letzendlich dazu, dass Betroffene ein Wahngebäude produzieren müssen um aus dem Wiederspruch herauszukommen ohne sich dem Konflikt zu stellen.
Was halten Sie heute von solchen Hypothesen?
Jede einfache Erklärung ist falsch. Psychotisches Erleben kann durchaus eine Art und Weise sein, Widersprüche nicht aushalten zu müssen. Aber es kann auch Ausdruck anderer Probleme sein. Wir kennen drogeninduzierte Psychosen und solche, die Wunschträumen oder tief liegenden Ängsten entsprechen. Was mich stört ist die Vereinnahmung der Psychosen durch die Psychiatrie.
Sie sprechen davon, dass man aus guten Romanen mehr über die Psyche lernen kann als durch Fachliteratur. Die wichtigste Bücher der Psychiatrie, ICD und DSM, ähneln eher Gebrauchsanleitungen. Daraus lernt man, die gängige Störungen zu diagnostizieren aber nicht zu verstehen. Nutzen Psychiater Ihrer Meinung nach zu wenig andere Mittel?
Ja. Psychiater sollten umfassend ausgebildet und Experten in zwischenmenschlicher Kommunikation sein. Unsere Ausbildung sollte sich verändern. Lesen von Weltliteratur sensibilisiert für menschliche Tragödien und Widersprüche, aber auch für Resilienz. Der Vorteil der Diagnosesysteme war, dass sie keine Hypothesen zu den Ursachen psychischer Auffälligkeiten mit sich bringen und dass Ärzte miteinander über Patienten kommunizieren können. Sie sind die Basis für die Therapie. Aber sie transportieren eben doch Vorurteile über Menschen, sie schränken unser Sehen ein.
Es gibt einen interessanten Dokumentarfilm der sich kritisch mit der Biologisierung der Psychiatrie auseinandersetzt (https://www.youtube.com/watch?v=VytXQ98wFBk). Darin erzählt eine Betroffene über ihren Heilungsprozess. Die wichtigsten Faktoren, die ihrer Meinung nach zu ihrer Heilung beigetragen haben, waren das langsame Wiedererlangen von Vertrauen in einen Menschen, der Therapeut*in, und die Zeit. Heute möchte man schnell behandeln, Kurzzeittherapien sind angesagt. Wie sehen Sie das: ist Zeitmangel ein Hindernis in der aktuellen Behandlung psychischer Störungen?
Ja, Zeitmangel ist ein großes Problem heutzutage. Er führt zu Hochdosistherapien mit Medikamenten und zur Standardisierung. Er verhindert den Aufbau von Vertrauen. Wir setzen uns unter Druck als Therapeuten. Das Paradoxe ist, dass Zeitmangel am Anfang der Therapie möglicherweise zu rascherer Verringerung der Symptome führt aber im Verlauf zur Chronifizierung. Psychosen brauchen Zeit. Menschen müssen wieder Vertrauen in andere aufbauen. Der Austausch über das, was sie erleben, benötigt Zeit bis sie bereit sind, darüber zu sprechen. Da-Sein ist wichtig, ohne den Druck, „therapieren“ zu müssen, es sei denn es besteht akute Eigen- oder Fremdgefährdung. Wir sollten daher eher von begleiten sprechen als von therapieren. Der Mensch selbst muss seine Psychose durchleben, nicht wir Therapeuten.
Man sagt, dass Menschen für´s Überleben und nicht für die Wahrheit geschaffen sind. Es scheint als ertrügen wir die Wahrheit nicht. Religion ebenso wie (Neuro)wissenschaft kann man auch als Beruhigungsmittel verstehen - beide apellieren an eine nahe oder ferne Zukunft in der unsere Probleme gelöst werden und lassen uns hoffen. Diese Delegation der Probleme in die Zukunft befreit uns darüber hinaus von unangenehmer Selbsterkenntnis und auch von dem vermeintlichen Druck, neue Erfahrungen machen zu müssen. Wir können hoffen, warten, brauchen nichts verändern. Allerdings kann dieser Weg nicht ohne Opfern gegangen werden. Opfer sind Betroffene, die zu chronisch Kranken gemacht, deren Lebenslagen medikalisiert werden.
Wird es jemals eine Zeit geben, in der wir uns nicht mehr derart selbst zu täuschen brauchen?
Selbsttäuschung gehört zum Leben dazu. Wir können uns bemühen, uns unserer Selbsttäuschungen besser bewusst zu werden.
Interessant finde ich auch die Studien die Sie aufführen um aufzuzeigen, dass Schizophrenien in in einigen Ländern außerhalb der westlichen Welt eine bessere Prognose haben als in unseren stark medikalisierten Systemen. Warum ist das so?
Ja, teilweise scheint die Prognose von Psychosen in Ländern mit weniger elaborierten psychiatrischen Versorgungssystemen besser zu sein. Diese Befunde waren für die Fachleute derart verstörend, dass sie zunächst verschiedene Erklärungen suchten – etwa die, dass Schizophrenien in Indien und Nigeria gar keine echten Schizophrenien seien, das Leben in diesen Gesellschaften insgesamt weniger »stressig« verliefe und die Familien und Gemeinschaften »inklusiver« lebten. Eine einfache Erklärungsmöglichkeit aber sie vergisst eines: dass dort weniger Medikamente gegeben werden und Menschen weniger oft in psychiatrische Kliniken gesteckt werden. Auch in sogenannten Entwicklungsländern gibt es schwere Fälle von Psychosen, manche Menschen starben daran, und manchmal werden sie auch stark ausgegrenzt oder versteckt. Aber vielleicht neigen diese Länder weniger zu Chronifizierung solcher Störungen.
Solche Erkenntnise sollten eigentlich zu einem Umdenken führen. Warum sind sie so wenig bekannt?
Sie werden aus dem kollektiven Gedächtnis der Psychiater verbannt, weil sie nicht ins Weltbild passen: Mehr Psychiatrie ist nicht immer besser…..
Ich frage mich, inwiefern die Selbsttäuschung, über die Sie sprechen, nur die Psychiatrie betrifft. Ich habe jahrelang mit Epilepsie-Patienten, insbesondere mit Kindern gearbeitet.
Epilepsie ist eine besonders interessante Störung. Lange Zeit war es unklar ob sie als psychiatrisch oder als neurologisch erfasst werden sollte. Die Erfindung des EEGs in den 30er Jahren durch Hans Berger hat uns einen Biomarker geliefert, die typisch veränderte Hirnkurve. Seit dem ist Epilepsie per Definition eine neurologische Störung geworden. Sie hat bekommen was die Biomedizin alle psychischen Störungen verpasst: den Stempel einer somatischen Störung. Davon erhoffen wir uns gezielte und effiziente Therapien. Auch hier hat sich diese Hoffnung nicht bestätigt. Trotz zahlreicher Antikonvulsiva ist die Zahl der anfallsfreien Patienten unverändert.
Ein weiteres Problem ist, dass Epilepsie häufig von psychichen Störungen begleitet wird. Die nennen wir "Komorbiditäten" um nicht weiter über Zusammenhänge nachdenken zu müssen. Aber genau wie es bei anderen Störungen der Fall ist könnte Epilepsie auch eine doppelte Genese haben und sowohl somatisch durch v.a. durch Hirnläsionen als auch psychich etwa von Ängsten oder Traumata ausgelöst werden.
Könnte es sein, dass nicht nur psychiatrische sondern auch andere Störungen, neurologische bzw. autoimmune, zu stark biologisiert sind?
Denken Sie, dass ihre Ansichten (Anmerkung: Täuschung, Selbsttäuschung ...) auch auf somatische Störungen zutreffen könnten? Wenn nicht, wo sehen Sie die Grenze?
Kann ich nicht gut beantworten.
Könnte es sein, dass die Psychiatrie eigentlich nicht das primäre Ziel hat, Menschen zu helfen sondern sich selbst zu erhalten?
Natürlich neigt jede Institution dazu, sich selbst zu erhalten. Ich würde der Psychiatrie nicht unterstellen, dass sie nur dieses Ziel hat. Der Bedarf an Unterstützung für Menschen mit psychischen Krisen ist ja groß und wächst. Aber der Selbsterhaltungsdrang der Psychiatrie verhindert Veränderungen und Weiterentwicklung. Bestehende Systeme mit ihren finanziellen und anderen Anreizen sind besonders in unserem Sozialversicherungssystem schwer zu reformieren.
Wagen sie eine Prognose für Ihr Fach? Wie denken Sie wird sich die Psychiatrie entwickeln, in 50 Jahre z.B.?
Ich habe keine wirklich gute Idee. Ich denke und hoffe, dass die Betroffenenbewegung stärker wird, dass die Psychiatrie weniger attraktiv wird für junge Ärzte, dass wir gezwungen sind, andere Möglichkeiten des Umgangs mit Menschen in psychischen Krisen zu finden weil Personal fehlt. Ich hoffe, dass die Psychiatrie immer weniger institutionalisiert und mehr in die Gesellschaft geht, dass die Grenzen zwischen den psychiatrisch tätigen Berufsgruppen stärker verwischen und dass die Gesellschaft mehr Verantwortung übernimmt für Menschen in psychischen Krisen. Aber auch die pessimistische Variante ist denkbar: Dass wir immer mehr psychische Probleme an die Psychiatrie delegieren und damit die Gesellschaft immer inhumaner wird. Insgesamt glaube ich, dass wir von Entwicklungen außerhalb der Psychiatrie eingeholt werden – die Psychiatrie hat sich meist durch Eingriffe von außen und nicht von innen verändert.
Dies ist der Herbst: der - bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort! -
Die Sonne schleicht zum Berg
Und steigt und steigt
und ruht bei jedem Schritt.
Was ward die Welt so welk!
Auf müd gespannten Fäden spielt
Der Wind sein Lied.
Die Hoffnung floh -
Er klagt ihr nach.
Dies ist der Herbst: der - bricht dir noch das Herz.
Fliege fort! fliege fort!
Oh Frucht des Baums,
Du zitterst, fällst?
Welch ein Geheimnis lehrte dich
Die Nacht,
Daß eis'ger Schauder deine Wange,
Die purpur-Wange deckt? -
Du schweigst, antwortest nicht?
Wer redet noch? - -
Dies ist der Herbst: der - bricht dir noch das Herz.
Fliege fort! fliege fort! -
"Ich bin nicht schön
- so spricht die Sternenblume -
Doch Menschen lieb' ich
Und Menschen tröst' ich -
sie sollen jetzt noch Blumen sehn,
nach mir sich bücken
ach! und mich brechen -
in ihrem Auge glänzet dann
Erinnerung auf,
Erinnerung an Schöneres als ich: -
- ich seh's, ich seh's - und sterbe so. -
Dies ist der Herbst: der - bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort!
F. Nietzsche
Am 5. Oktober wurde der Tag der Epilepsie gefeiert.
"Epilepsie braucht Offenheit", war diesmal das Motto.
Wegen das Stigma.
Den im XXI Jahrhundert hätte man gerne das Stigma dahinschwinden sehen, zusammen mit der Chimäre, Epilepsien gleich Geisteskranheit.
Körperliche Krankheiten, auch wenn sie den Gehirn betreffen, werden weniger stigmatisiert. Für die kann niemanden was.
Körperliche Krankheiten werden besser akzeptiert. Man bildet sich ein, dass man sie besser verstünde, gerade weil sie körperlich sind. Weil man sie potentiell sehen kann.
Nun ist Epilepsie doch so lange eine neurologische Störung und Betroffene fühlen sich trotzdem stigmatisiert.
Über den Stigma konnte man an dem Tag in einen Flyer lesen;
"Das Stigma, das mit der Krankheit immer noch verbunden ist und das einen offenen Umgang mit ihr oft verhindert. Denn nur dann, wenn Menschen mit Epilepsie offen über ihre Krankheit sprechen können und nur dann, wenn sie kein Tabu mehr ist, wird klar, dass Epilepsie eine chronische Erkrankung ist wie andere auch."
und weiter...
"...braucht Epilepsie wirklich immer und voraussetzungslos Offenheit oder gibt es auch Situationen, in denen es berechtigte Gründe gibt, seine Epilepsie zunächst für sich selbst zu behalten? Führt mehr Offenheit zu einer besseren Akzeptanz der Erkrankung in der Öffentlichkeit oder wird mit ihr nicht auch manchmal das Gegenteil von dem Erreicht, was erreicht werden soll?“
Also scheinen Stigmata nicht einfach zu verschwinden, wenn man über sie redet. Dass die Wirklichkeit komplizierter -und manchmal auch grausamer- ist, wissen am besten die Betroffenen.
Den Epilepsien sind nicht nur Gehirnstörungen.
Es sind nicht nur die Anfälle. Manchmal rücken Anfälle sogar in den Hintergrund, wenn man mit Betroffene über deren Epilepsien spricht.
Und die Biographien, sind es, die sich im Vordergrund
drängen.
Den die Hölle, die oft zur Krankheit gehört, wird nicht (nur) von den Anfällen verursacht.
"Die Hölle, -so Sartre- dass sind die Anderen".
Wir Anderen mit unseren Vorurteilen, Verboten, Ängste.
Mit unser streben nach Normalität;
Eltern, die sich über sie geschämt haben, Lehrer, die von ihnen wenig erwarteten, Kinder, die gemein zu ihnen waren, Arbeitgeber, die sie nicht anstellen wollten und manchmal auch Therapeuten, die unsensibel waren, und zuweilen weiter behandelt haben obwohl, wenn sie ehrlich gewesen wären, sich hätten eingestehen sollen, dass sie nicht weiter wussten.
Wir machen das Stigma, und die Chimäre, das ist die Normalität, nach der wir streben.
"Gestern packte mich urplötzlich eine fast verwegene Munterkeit.
Zum ersten mal in diesem Jahr verspürte ich die alte Lebenslust wieder, die Begierde wissen zu wollen, was der Tag für mich bringen würde.
Plötzlich drehte ich mich um, und sah das alte Bild meiner Klasse vor mir. Ich war zehn damals, irgendetwas schien mir klar zu werden, das die ganze Zeit schon bereit gelegen hatte, sich aber meinem Bewusstsein entzogen hatte. Zu meiner Überraschung muss ich zugeben,
dass ich nicht weiß wer ich eigentlich bin.
Ich habe nicht die blasseste Ahnung.
Ich habe immer getan was mir von den Leuten gesagt wurde.
Soweit ich zurückdenken kann, war ich immer gehorsam, anpassungsfähig... ja, fast demütig.
Jetzt wo ich daran denke fällt mir ein, dass ich als kleines Mädchen, ein oder zwei Mal, Ausbrüche von Geltungsbedürfnis hatte.
Ich erinnere mich aber auch, das Mutter solche Abweichungen von der Konvention, mit exemplarischer Härte bestrafte.
Für mich und meine Schwestern zielte die ganze Erziehung nur darauf, liebenswürdig zu sein.
Ich war ziemlich hässlich und auf diese Tatsache wurde ich ständig hingewiesen. Nach und nach fand ich heraus, dass es belohnt wurde, wenn ich meine Gedanken für mich behielt und wenn ich mich
einschmeichelnd und umsichtig verhielt.
Die ganz große Täuschung meiner Umgebung geschah jedoch erst während der Pubertät.
Alle meine Gedanken, Gefühle und Handlungen kreisten um die Erotik. Meine Eltern gegenüber ließ ich jedoch nichts davon bemerken. Übrigens auch niemand anders gegenüber.
Das Täuschen wurde mir zu zweite Natur.
Ich wurde verschlossen.
Was ich tat, tat ich heimlich.
Mein Vater wünschte dass ich, wie er, Anwalt werden sollte. Einmal machte ich eine Andeutung, dass ich lieber Schauspielerin werden wollte. Auf jeden Fall wollte ich irgendwas mit dem Theater zu tun haben.
Ich weiß noch, wie sie mich ausgelacht haben.
Seither habe ich weiter meine Umwelt ständig getäuscht.
Ich meine damit meine Beziehung zu anderen Menschen, meine Beziehungen zu Männern.
Es ist immer das selbe so tun als ob, es sind immer die gleiche verzweifelten Versuche es jedem recht zu machen.
Ich habe nie daran gedacht was ich möchte sondern immer:
"was möchte er, das ich möchte".
Das ist keine Selbstlosigkeit, wie ich zu glauben pflegte,
sondern die reine Feigheit.
Und, was noch schlimmer ist; völliges Unwissen wer ich bin.
In meinem Leben gab es nie dramatische Momente. Dazu bin ich wohl nicht begabt. Aber zum ersten male fühle ich heute eine heftige Gemütsbewegung bei den Gedanken herauszubekommen was ich eigentlich mit mir anfangen möchte.
In der netten kleinen Welt in der wir, Johan und ich, gelebt haben, gar nicht bewusst, sie stillschweigend hinnehmend, war so viel Brutalität und Grausamkeit, dass ich heute mehr und mehr Angst bekomme, wenn ich daran zurückdenke.
Für äußere Sicherheit zahlt man ein hohes Preis: die Hinnahme der permanenten Zerstörung der Persönlichkeit.
Es ist sehr leicht, die vorsichtige Versuche eines Kindes sich selbst zu behaupten gleich von Anfang an zu Deformieren.
Bei mir geschah es dadurch, das man mich mit einem Gift impfte, dessen
Wirkung hundertprozentig ist:
mit schlechtem Gewissen.
Schlechten Gewissen erstmals meiner Mutter gegenüber, dann den Menschen in meiner Umgebung gegenüber,
und schließlich, und das nicht zu knapp,
Jesus und Gott gegenüber.
Plötzlich erkenne ich, wie anders ich mich entwickelt hätte, hätte ich nicht zugelassen, dass man mich Gehirnwäschen unterzieht.
Heute muss ich mich fragen
ob ich nicht hoffnungslos verloren bin
ob ich nicht unfähig zu Freude an mir und an den anderen bin.
Ob diese jedem angeborene Kraft Freude zu empfinden tot ist oder ob sie nur schläft und wieder geweckt werden kann.
Ich frage mich, was für eine Ehefrau, was für eine Frau ich überhaupt geworden wäre, wäre es mir möglich gewesen, meine wirkliche Anlagen zu nutzen."
Auszug aus "Szenen einer Ehe" Ingmar Bergman
"Wenn die Kinder artig sind,
kommt zu ihnen das Chriskind:
wenn sie alles in sich fressen,
Spiel´und Späße fast vergessen,
wenn sie ohne Lärm zu machen,
still sind bei den Siebensachen,
bei Spatziergehen auf den Gassen
stur und brav sich führen lassen,
dann passiert es nur zu leicht,
dass der Unsinn niemals weicht:
70 Jahre und noch länger
sind sie bange und noch bänger
vor Polente, Nachbarsfrau,
Gottes Thron und Kohlnklau.
Von den hochgestellten Leuten
lassen sie sich willig beuten.
Darum sei nicht fromm und brav
wie ein angepflocktes Schaf,
sonder wie die klugen Kinder
froh und frei.
Das ist gesünder."
F.K Waechter
Warum sehen psychologische Befunde nicht so aus?
Liebe xxx,
Die Welt der Erwachsene ist so organisiert, dass viele wichtige Dinge keinen Platz mehr finden.
Ich habe dich mit unterschiedlichen neuropsychologischen Tests untersucht und feststellen können, dass es Aufgaben gibt die dir schwer fallen. Zum Beispiel scheint es so zu sein, dass du dich, bei Aufgaben die dir nicht gut gelingen, schlecht konzentrieren kannst.
Und ich weiß auch, dass dir das Lesen und Rechnen nicht so gut gelingt, wie du dir sicherlich gerne wünschen würdest.
Leider werden in unsere Gesellschaft, einige Fähigkeiten für sehr wichtig gehalten, andere dagegen nicht.
Und so denken manche Leute, man sei weniger klug wenn man
bestimmte Sachen zu einer bestimmten Zeit nicht beherrscht. Wenn jemand aber nicht malen oder tanzen kann, dann finden es diese Leute nicht schlimm.
Ich denke es ist ein Fehler so zu denken.
Ich habe mit dir Tests gemacht, aber ich habe dich auch bei anderen Tätigkeiten beobachtet und bin überzeugt, dass du ein sehr kluges Mädchen bist.
Und damit du nicht denkst, dass ich dich einfach so loben möchte, will ich dir sagen, warum ich das denke.
Es waren zunächst deine Bilder, die mich beeindruckt haben. Du kannst wunderschön malen. Wenn du malst, dann wirkst du nicht mehr unsicher, dann arbeitest du entschlossen und zögerst nicht: das Ergebnis ist toll.
Wenn du malst dann scheinst du keine Angst zu haben Fehler zu machen.
Deine Bilder sind voller Phantasie. Ich habe sie in mein Büro aufgehängt, damit auch andere Kinder sie sehen können.
Ich glaube du bist auch ein sehr feinfühliger Mensch und eine sehr gute Beobachterin. Du hast dir mit viel interesse meine Bilder angeguckt und ausergewöhnliche Fragen gestellt. Es waren sehr kluge Fragen.
Deine Eltern haben mir bestätigt, dass du viel Phantasie hast und du dir beim Spielen viele interessante Dinge ausdenkst.
Niemand weiß sicher warum du Probleme in der Schule hast. Wahrscheinlich hattest du andere Sorgen und konntest dich im Klassenraum nicht konzentrieren. Und so hat sich nach und nach zu viel angehäuft was dir schwer fällt, und jetzt weiß du gar nicht mehr, wo du ansätzen sollst.
Aus lauter Verzweiflung hast du aufgegeben.
Eins ist sicher; du bist ein kluges Mädchen. Du brauchst aber
Liebe, Geduld und Hilfe von den Erwachsene, und wenn du es bekommst, dann wirst du wieder lernen können.
Alles Gute!
Dann ging ich in das Haus zurück und schrieb:
„Es ist Mitternacht.
Der Regen peitscht gegen die Scheiben.
Es war nicht Mitternacht,
es regnete nicht."
S. Beckett
"Ich fürchte mich so vor der Psychiatern Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus.
Und dieses heißt Schizophrenie und jenes heißt ADHS,
und hier ist Normal und die Krankheit ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
keine Geschichte ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren:Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um."
(Nur leicht Modifiziert von Rainer Marie Rilke)
Dieses Gedicht ist nicht an einzelnen Psychiatern gerichtet. Es würde nicht zutreffen. Es geht um die gegenwärtige Psychiatriepraxis.
Der spanische Schriftsteller Javier Cercas stellte vor einigen Monaten sein Buch "Las leyes de la frontera" an dem Instituto Cervantes in Berlin vor.
Ich war von dem Menschen Cercas, den ich nur aus seinen wöchentlichen Artikel in "El Pais" kannte, begeistert. Er drückte sich mit der gleichen Schärfe und Klarheit aus, mit der er zu schreiben pflegt.
Interessant fand ich vor allem seine Theorie des "Blinden Flecks".
Was ist der blinde Fleck?
Wenn man zu schreiben beginnt, so Cercas, weiss man nicht mit Sicherheit, was am Ende entstehen wird, man hat zwar ein Konzept skizzieren und tausende Details im Kopf, aber der Akt des Schreibens ist ein kreativer Akt, der sich nicht ganz bewusst leiten lässt.
Unterwegs ragen Ideen empor, die nicht geplant waren; das ist auch das Faszinierende am Schreiben- oder an anderen künstlerichen Tätigkeiten.
So sei er selbst am meisten überrascht, als aus seinem Buch, anders als gedacht, am Ende eine Liebesgeschichte wurde.
Das ist ein blinder Fleck. Etwas das entsteht, ohne dass es geplant war. (Jemand sagte bezüglich der Kunst, dass ein Kunstwerk erst durch den Rezipienten vollendet wird.)
Wir Therapeuten arbeiten mindestens seit Freud mit dem blinden Fleck.
Man könnte die Therapie sogar als das Suchen nach dem blinden Fleck beschreiben. Wenn der blinde Fleck erscheint, wird alles lebendiger, die Emotionen beben und die Geschichte kann eine interessante Wendung bekommen.
Und, obwohl viele blinde Flecke in unser Leben existieren, sind die wichtigen, die wesentlichen, nicht so viele - und ähneln oft einander.
Alice Miller hat in ihrem berühmten Buch, "Das Drama des begabten Kind", einen von diesen blinden Flecken beschrieben; die Mutter*, oder besser gesagt, die Interaktion mit ihr.
Die Menschen, die Miller beschreibt, zeigen eine ähnliche Symptomatik im Erwachsenalter. Sie fühlen sich Erschöpft, Lebensmüde, oder Entfremdet, im klinischen Jargon spricht man hier über Dysthymia, eine chronische Depression.
Wenn man sich die Biographie dieser Menschen anguckt findet man manchmal kein offensichtliches traumatisches Erlebnis, oft wurden sie als Kinder von ihre Eltern, oberflächlich betrachtet, gut versorgt, gepflegt und sogar kognitiv stimuliert, sie wurden nicht offensichtlich vernachlässigt bzw. missbraucht.
Nein, es handelt sich hier um ein etwas Subtileres.
Zum Beispiel kam es nicht selten vor, dass sie Parentifiziert wurden, d.h. als Ersatz für einen abwesenden Erwachsenen benutzt wurden. Oder sie wurden einfach wie die Erwachsene behandelt, die sie noch nicht waren.
Die Eltern waren nicht imstande das Kind in ihnen wahrzunehmen, wahrscheinlich weil sie selber nie Kinder waren.
Uns so lernten diese Kinder sich entsprechend den Erwartungen zu verhalten; Nett sein, Wünsche der Eltern zu erraten und erfüllen, immer für die Eltern da sein und vor allem, nichts Unanständiges anzustellen.
*Wenn ich hier von Mutter spreche meine ich die erste Bezugsperson, die naturgemäß meistens die Mutter ist.
Wenn Miller von "begabten Kind" spricht meint sie nicht eine kognitiv überdurchschnittliche Begabung, sondern eher eine emotionale (Früh-)Reife. Diese Kinder waren Vorzeigekinder. Sie machten den Eltern nicht nur keine Probleme, im Gegenteil, sie waren eher die Ansprechpartner um Probleme zu diskutieren. Wärenddessen wurden die Eltern wahrscheinlich für Erziehungskompetenzen gelobt.
Und zurück zu den Kindern. Sie haben gelernt, sich wie Erwachsene zu Verhalten um gesehen zu werden und dieses Verhalten, dieses sich wie Erwachsene Verhalten, wird bald zu deren einziger Verhaltensmöglichkeit.
Und obwohl diese vor-reife Verhaltensweisen in der Kindheit Vorteile mit sich bringen - unter Erwachsenen-, haben sie auch Nachteile, zum Beispiel verhindern sie die Immersion in die kindliche Welt des Spielens. Das Kind behält immer eine Metasicht auf die Dinge, die es nie verlassen kann, und die von anderen Kinder als nervig empfunden wird, da die Metasicht keine Fehler toleriert und zu Kritik neigt.
Diese Kinder werden von Gleichaltrigen als arrogant, besserwisserisch, altklug o.ä. empfunden.
Und die langfristigen Folgen?
Da das Kind hat nicht die Möglichkeit gehabt, mit seinen eigenen Gefühlen zu experimentieren, sich zu spüren, da es begabt war und schnell bemerkte, dass seine Gefühle nicht gut und nicht willkommen waren und so bleibt sein eigenes Ich unterentwickelt. Dies führt dazu, dass es, nach Winnicott, eine geliehene Persönlichkeit entwickelt, ein "falsches Ich".
Und wenn es endlich wirklich Erwachsen wird, wird es vielleicht fühlen, dass es nicht Herr seines Lebens ist, das es nicht weiß, wofür es irgendwas tut oder es sich wie chronisch gelähmt und erschöpft fühlt.
Ich denke, wie Miller, dass in unserer Gesellschaft, das Gebot "du wirst Vater und Mutter ehren" sich als eines der hartnäckigsten hält - da keiner hier was auszusetzen hat. Wahrscheinlich liegen die Wurzeln dieses Gebots in dem angeborenen und tief veranckertem Wissen, dass man die Eltern für das Überleben braucht. (Dies ist auch der Grund, warum es so extrem selten ist, dass kleine Kinder ihre missbrauchende Eltern denunzieren; sie sind von ihnen abhängig.)
Und wie der Angestellte, der nach Hause kommt und die Wut, die seinem Chef gelten sollte auf seine Frau loslässt, so bevorzugen wir auch unsere Gefühle überall zu projizieren, nur nicht bei unseren Eltern - und wenn ja, nur kurz und oberflächlich. Irgendwo wissen wir, dass wenn wir es täten, sich eine tiefe Traurigkeit einstellen würde und die Bastionen, auf die wir unsere Persönlichkeit aufgebaut haben, wackeln würden.
Hier ist Miller gnadenlos; man muss sich den Gefühlen stellen und die Verantwortlichen - die Meistens die Elten sind - dafür ins Gericht ziehen.
Man darf sich aber fragen, ob diese "private Rebellion" nötig ist um psychisch gesund zu werden, d.h. die Zügeln des eigenen Lebens in die Hand zu nehmen und sich wieder spüren zu lernen.
Reicht es vielleicht nicht mit einer allgemeinen Rebellion, z.B. gegen den Status quo, die Globalisierung oder den Kapitalismus?
Das muss natürlich jeder für sich entscheiden.
Meiner Meinung nach ist die größte Gefahr, wenn man sich den eigenen Verletzungen nicht stellt, neben dem Fortbestehen der chronischen Unzufriedenheit, deren Weitergabe an die eigenen Kinder.
Die ewige Wiederkehr der Geschichte die nicht reflektiert wurde.
Und in diesen Punkt bin ich mit Miller einer Meinung: die Konfrontation kann sich lohnen.
Der Mensch - und auch andere Tiere - verfügt über eine hohe Empfidsamkeit für die Wahrnehmung der Schwächen der Anderen.
Die Entdeckung einer solchen Schwäche, weckt nicht nur unsere Empathie; auch andere, niederere Instinkte werden aktiviert, vor allem, wenn wir diese Schwäche eines Anderen als stabile Persönlichkeitseigenschaft interpretieren.
Dies ist eine soziale Realität.
Aber auch in dem Fall, dass wir die Schwäche als temporär und durch äußere Umstande verursacht wahrnehmen, ist unsere Empathie von begrenzter Dauer. Nach einiger Zeit, ohne dass wir gewarnt werden, verwandelt sich die ursprüngliche Empathie in Irritation. Möglicherweise ist die empfundene Ohnmacht -zusammen mit der menschlichen Abneigung für das Unheil- für dieser "Metamorphose der Gefühle" verantwortlich.
Behinderte Kinder sind oft Opfer von Mobbing. Dabei ist jedoch die Behinderung nicht immer allein dafür verantwortlich ; die Fähigkeit der Eltern, das Kind zu lieben und zu schützen spielt eine erhebliche Rolle.
Im Falle von behinderten Kindern ist es ja aber so, dass Eltern wahrscheinlich nie ihre Kinder ganz werden schützen können - und das der schmale Grat zwischen Schützen und Überbehüten noch leichter zu überschreiten sein wird.
Aber auch normal begabte Kinder können aufgrund von Mangeln an Schutz und Liebe fürs Leben schwer geschädigt werden.
Bekanntermaßen kann Mobbing so subtil verlaufen, dass es für den Betroffenen fast unmöglich wird es zu benennen, geschweige denn es anzuzeigen. Und in den Schulen ist es machmal so, dass man nach den Motto handelt "Kinder sollen es untereinander lösen", was nicht grundsätzlich falsch sein muss.
Aber meistens schämen sich die Betroffen selbst gemobbt zu werden und es offen zuzugeben würde auch bedeutet, die eigene Schwächen öffentlich zu machen und sich selbst zuzugestehen, dass man alleine nicht zurecht kommt.
Es gibt auch eine andere Form von Mobbing, die nicht bewusst erfolgen muss und manchmal total unabsichtlich ist; das Ignorieren.
Die Betroffene sind meist unauffällige Menschen, die man nicht bemerkt, die da sind, aber irgendwie nicht zählen. Sie werden nicht als volle Individuen wahrgenommen und man denkt nicht daran, wie schmerzhaft dieses "ignoriert sein" sein kann. Sie existieren für uns nicht wirklich.
"Mein Freund Dahmer", von Derf Backderf, ist ein Comic der diese Art von Mobbing sehr genau und aus der Sicht eines "Mitläufers", beschreibt.
Backderf, der mit Dahmer im Gymnasium in einer Klasse war, und wie alle anderen seine dunkle Seite (er wurde ein Serienmörder) nicht bemerkt bzw. weit unterschätzt hatte, plagen Retrospektiv viele Fragen.
Der Autor beschreibt im Prolog den Schock, den er erlitt, als er in den Nachrichten über Dahmers Schiksal erfuhr. Und zum Glück, bleibt er nicht bei dieser banalen Feststellung stehen, sondern
geht ein Schritt weiter und stellt sich viele wesentliche Fragen, Fragen die Psychologen, Therapeuten, Pädagogen, Ärzte und jede(n), die/der mit Kindern arbeitet, beschäftigen
sollten.
Obwohl Backderf klarstellt - und man glaubt ihm -, dass zwischen ihm und Dahmer nie eine wirkliche Freunschaft existiert hatte, (er denkt das Dahmer überhapt nie richtige Freunde hatte,) sagt er auch das ihm Dahmer eine Zeit lang stark faszinierte.
Um die traumatische Verkennung der Person Dahmer zu verarbeiten, und die Fragen, die ihn seitdem plagten nachzugehen, schuf der Autor diesen Comic. Die Arbeit daran beschäftigte den Autor über zwanzig Jahre und bekam einen therapeutischen Charakter.
Wie war Dahmer bevor er ein Mörder wurde? Warum ist er überhaupt zum Mörder geworden? Hätte man es verhindern können?
Backderf beschreibt Dahmers Leben - vor allem seine Einsamkeit - auf eine so sensiblen Art, dass man es nicht anders kann, Mitleid mit den grausamen Serienmörder zu empfinden.
Interessant finde ich auch, dass er sein Leben mit dem von Dahmer vergleicht und uns vorführt, wie man sich irren kann, wenn man bei eine oberflächlichen Beschreibung der Lebensumstände eines Menschen bleibt - wie die Medien es meistens machen. Den Anschein nach waren Dahmers Lebensbedingungen sehr ähnlich zu denen des Autors.
Aber Dank der engen Bekanntschaft mit ihm hatte Backderf einen intimen Zugang zu seinem Leben und lässt uns hinter der Fassade blicken.
Dahmer ist, wie der Autor sagt, keine sympathische Figur, sondern eine tragische, unfähig unsere Sympathie zu wecken, aber wohl -wenn man das verlorene Kind in ihm erkennen kann- unsere Empathie. (Was natürlich seine Taten nicht entschuldigt; aber zum Teil erklärt).
Ignoriert im Gimnasium bleibt ihm als einzige Option wahrgenommen zu werden sein exzentrisches Verhalten, dass eine Zeit lang eine gewisse Ressonanz bei seiner Peergruppe findet und ihm kurzzeitig die Ilusion gibt, dazuzugehören. (Den Clown zu spielen ist eine gewöhnliche Lösung ausgeschlossener Kinder - nach dem Motto; "besser belacht als ignoriert".)
Geplagt von der Frage, ob er Dahmer irgenwie hätte retten können, stellt der Autor die wesentliche -die Gretchenfrage:
Wo waren die Erwachsenen??
Das kenne ich gut, meinte meine Freundin.
Nach dem man Jahre lang dachte, eine stabile Beziehung zu führen und den Partner mit allen möglichen Tugenden ausgestattet hatte, -die man gerne an ihm haben wollte bzw. die man, als man verliebt war, zu endecken meinte- und lauter Gemeinsamkeiten angenommen hatte, geht es auf einmal rapide Berg ab.
Meistens wird der Prozess durch eine wichtige Entscheidung die ansteht beschleunigt. Plötzlich endeckt man, dass der Partner nicht der ist, für den man ihn gehalten hat.
Er hat eigene Wünsche.
Und das schlimmste: die sind mit den eigenen unvereinbar.
Eigentlich gibt es keine Hinweise, dass diese Skizze von Partnerschaft jemals anders gewesen ist. Aber vieleicht sind die heutigen Ansprüche an den Partner gestiegen bzw. ist die ideale Vorstellunge von Partnerschaft diffuser geworden. Vielleicht trifft auch nichts von beidem zu, sondern man war früher genau so unglücklich wie heute (aber man hat das Leid als zum Leben dazugehörend empfunden), oder man hatte wichtigere Probleme, oder man wusste einfach nicht - es gab nicht so viel Werbung - dass es überhaupt anders sein könnte.
Eva Illouz, hebräische Soziologin, analysiert was sie selber als "Die neue Liebesordnung" bezeichnet anhand des aktuellen Bestsellers "50 Shades of Grey".
Was ich an der These von Illouz vor allem interessant finde ist die Tatsache, dass sie sich an den -politisch inkorrekten- negativen Seiten der Assimilierung des Femminismus durch die Gesellschaft wagt.
Angefangen bei der Feststellung, dass Männer, die deren Gesetze - die des Femminismus- gelernt haben, jegliche Spontaneität - und damit oft jegliche Initiative - beim Kontaktaufnehmen mit Frauen verlieren (da sie in dem Paradoxon gefangen sind eine sexuele Beziehung, und vieleicht auch mehr, zu wollen und dies gleichzeitig kaschieren zu müssen) bis zu Beobachtung, dass sich die moderne Frauen nach maskulinen Männern bzw. nach das Maskuline im Mann insgeheim seelisch sehnen.
Mit der letzten These erklärt Illouz den Erfolg des Romans.
Kurz zusammengefasst handelt es sich beim der Trilogie "50 Shades of Grey" um die Bemühungen von Anastasia, der Protagonistin, Liebe und Autonomie unter einen Hut zu bringen.
Anastasia verliebt sich in einen sehr atraktiver und extrem potenten Mann, der jedoch unfähig - und darüber sehr bewusst ist - sich zu binden. Die Beziehung beginnt als sexueles, sodamasochistisches Verhältnis, in dem es darum geht, Grey zu befriedigen. Ana akzeptiert -und geniesst- zunächst alle möglichen Demütigungen aber im Laufe des Romans wird ihr streben nach Autonomie immer mehr im Vordergrund treten.
Laut Illouz ist der Erfolg des Romans nicht - wie es auf dem ersten Blick erscheint- die erotische Beziehung zwischen den Beiden, sondern die Lösung die es bietet für die Dilemmata der heterosexuellen modernen westliche Paare.
Welche sind diese Dilemmata?
Laut Illouz:
Die SM-Beziehung im Roman wird als Kompromiss zwischen den traditionellen (machistischen) Rollen un den modernen, die uns erlauben könnte, die positiven Seiten dieser beiden Rollen zu genießen.
Wonach sehnen wir uns den konkret?
Nochmals laut Illouz:
Illouz meint, der Erfolgt des Romans liegt daran, dass Sie ein gegenwärtiger Aspekt des soziales Unbewusstes artikuliert:
die Verunsicherung - ich würde fast sagen Blockade- der moderne Heterosexuelen Paare.
Und sie scheint recht zu haben, wenn man sich extrem gestiegene Verkaufsquoten der sexuelen Spielzeuge -Hilfsmiteln- die im Buch auftreten in EEUU anguckt.